Review20. April 2025 Cineman Redaktion 2y2o4g
Filmkritik: «Miséricorde» – wenn ein Heimkehrer alte Wunden aufreisst t2t6p

Alain Guiraudie, bekannt für «L’inconnu du lac (2013)», meldet sich mit «Miséricorde» eindrucksvoll zurück. Sein neuer Film ist ein sinnlicher Thriller über Begehren, Schuld und Verdrängung. Nach Festivalstationen in Cannes und am NIFFF zieht uns vor allem die Besetzung in den Bann – allen voran Félix Kysyl in einer intensiven Hauptrolle.
von Eleo Billet; übersetzt aus dem Französischen
Zehn Jahre war Jérémie (Félix Kysyl) weg. Jetzt kehrt er zurück in sein Heimatdorf im französischen Zentralmassiv – zum Begräbnis seines früheren Chefs. Viel erfährt man nicht über seine Vergangenheit, aber seine Rückkehr bleibt nicht unbemerkt. Besonders Martine (Catherine Frot), die Witwe des Verstorbenen und frühere Bäckerin, öffnet ihm ihre Tür. Was als stilles Wiedersehen beginnt, löst bald Spannungen aus – vor allem mit ihrem Sohn Vincent (Jean-Baptiste Durand), der Jérémie feindselig begegnet und ihm unterstellt, ein Auge auf seine Mutter geworfen zu haben.
Doch Jérémies Anwesenheit berührt mehr als nur familiäre Empfindlichkeiten. Nach und nach kommen im Dorf alte Wunden, unterdrückte Wünsche und geheim gehaltene Sehnsüchte ans Licht. Auch der lokale Priester (Jacques Develay) bleibt davon nicht verschont.
«Miséricorde» erinnert in Stimmung und Struktur an Pasolinis «Teorema», ein Fremder kommt und mit ihm zerbricht die Fassade. Guiraudie taucht tief in das, was unausgesprochen bleibt: das queere Begehren, die Angst vor dem Fremden und das emotionale Vakuum eines Dorfes, das zwischen Schuld und Sehnsucht gefangen ist.
Catherine Frot zeigt sich von einer verletzlichen, innerlich zerrissenen Seite – eine Figur, die zwischen Mutterschaft, Trauer und neu erwachtem Begehren schwankt. Félix Kysyl spielt Jérémie ruhig, fast geisterhaft, und genau das macht ihn so faszinierend. Die Dialoge sind pointiert, mit schwarzem Humor durchzogen und bewegen sich geschickt zwischen Tragik, Absurdität und direkter Konfrontation.
Neben der Geschichte schwingt eine politische Ebene mit: Guiraudie zeigt, wie sehr sich viele Menschen in ländlichen Regionen von der Gesellschaft verlassen fühlen. Zwischen leerstehenden Hän und verlorenem Gemeinschaftsgefühl entstehen Spannungen, die nur darauf warten, sich zu entladen.
Kamerafrau Claire Mathon verleiht den Wäldern rund um das Dorf eine beinahe mythische Aura – das Licht ist gelblich, flirrend, beinahe traumhaft. Das erzeugt eine Stimmung, in der Realität und Fantasie ineinander übergehen.
«Miséricorde» ist kein klassischer Thriller, sondern eher ein psychologisches Kammerspiel im Freien – roh, unbequem und gleichzeitig wunderschön gefilmt. Der Druck auf Jérémie wächst mit jeder Szene, und am Ende bleibt die Frage: Wer steht wirklich auf seiner Seite?
Einer der intensivsten und eigenwilligsten Filme des NIFFF 2024 – unbedingt sehenswert.
«Miséricorde» ist ab dem 10. April 2025 im Kino zu sehen.
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